Als Cyborgs unter Wasserwesen
Das multidisziplinäre Forschungsprojekt «Interfacing the Ocean» stellt Fragen zum Zustand der Ozeane, der Verantwortung der Menschheit und den Möglichkeiten einer neuen Verbundenheit zwischen unterschiedlichen Lebensformen.
Das Mittelmeer ist Sehnsuchtsort der Konsumgesellschaft im Spätkapitalismus und zugleich Zeuge politischer Umwälzungen, kultureller und ökonomischen Vernetzungen und kriegerischer Eroberungszüge der vergangenen Jahrtausende. Wer in Pula, einer kleinen Stadt in Istrien im Norden Kroatiens, am Hafen steht und in die Sonne blinzelt, wird von all dem Spuren wahrnehmen. Am Steg wartet vielleicht gerade die Fähre, die Reiselustige nach Venedig bringt, während im Wasser Jachten neben Fischerbooten dümpeln. Wenige Meter landeinwärts steht die eindrucksvolle Ruine eines römischen Amphitheaters, Hinterlassenschaft einer hegemonialen Macht, die bis in die Gegenwart wirkt.
Das wahre Drama dieser Gegenwart spielt sich aber weiter draussen ab, in der Bucht von Valsaline, die einst für ihre Biodiversität und ein intaktes Ökosystem bekannt war. Hier trifft man regelmässig Menschen auf Tauchgang, die für das Forschungsprojekt «Interfacing the Ocean» die Unterwasserwelt erkunden, ihre Beschädigungen festhalten und mit neu gestalteten Prototypen nach Lösungen suchen. Drei Regionen, die auf unterschiedliche Weise menschlichen Einflüssen ausgesetzt sind, liegen im Fokus des Projekts, das von Karmen Franinovic und Roman Kirschner aus der Fachrichtung Interaction Design geleitet wird: das Städtchen Calvi, gelegen an der nördlichen Küste Korsikas, Venedig und eben Pula, alle verbunden durch das Mittelmeer.
Beobachten, sich kümmern und bewusst gestalten
In der Bucht von Valsaline wurde durch die Verlegung eines Überlaufrohrs vor einigen Jahren derart viel Sediment aufgewirbelt und verteilt, dass der Lebensraum der lokalen Spezies nun massiv eingeschränkt ist. Valsaline steht dabei nur stellvertretend für unzählige Orte, in denen Indikatoren für den Pfad des eskalierenden materiellen Verbrauchs, den die Menschheit beschritten und der die Lebensbedingungen auf der Erde an den Rand des Kollapses geführt hat, immer offener zutage treten. «Interfacing the Ocean» möchte dem eine Praxis des Kümmerns, Beobachtens und bewussten Gestaltens im Austausch mit der Unterwasserwelt entgegenstellen, die den Anspruch hat, sich auch selbst zu reflektieren. So wird das Tauchen, als ein Kernelement des Projekts, von Kirschner folgendermassen eingeordnet: «Beim Tauchen bewegt man sich zwar im Wasser, als würde man dorthin gehören, ist aber durch den technischen Apparat auch davon abgenabelt. Es entsteht Lärm, akustisch und seismisch, der auf die Organismen in der Umgebung einwirkt. Als Menschen prägen wir mit unseren Atemzügen und Bewegungen diesen Raum mit. Wir sollten uns fragen, was es bedeutet, als Cyborgs auf andere Lebewesen zu stossen.»
Die metabolische Verbundenheit erforschen
In den Ozeanen ist das Leben entstanden und heute noch verstehen wir nur einen Bruchteil von der Komplexität dieses Raums. Das Projekt nähert sich seinem Thema aus der Perspektive unterschiedlicher lokaler und disziplinärer Erfahrungen, Kenntnisse, sozialer und kultureller Praktiken. Franinovic ist am Mittelmeer aufgewachsen: «Das Meer ist wie ein Elixier, das mich trägt und heilt.» Ihr Vater war einer der ersten Tauchlehrer Kroatiens und hat später mit anderen einen gemeinnützigen Tauchclub gegründet. Über ihn ist auch Kirschner zum Tauchen gekommen, der das Meer zuvor vor allem als Erholungsziel kannte. Die Faszination für die Unterwasserwelt führte zu einem wachsenden professionellen Interesse, neuen Design-Lehrangeboten an der ZHdK und einem erfolgreichen Antrag um Fördermittel beim Schweizerischen Nationalfonds. Teil des Projektteams sind auch die beiden Designerinnen Anthea Oestreicher und Rasa Weber, die derzeit einen PhD verfassen, sowie der Künstler Antoine Bertin, der die Welt mit dem Medium Sound dokumentiert, erforscht und interpretiert. Aus Perspektive des Interaction Design dreht sich vieles um das Verhältnis zu Technologie. Franinovic verweist auf den experimentellen Bau «Biosphere 2», in dem Anfang der neunziger Jahre ein in sich komplett geschlossenes Ökosystem simuliert wurde. Als eine Wissenschaftlerin nach vierundzwanzig Stunden Aufenthalt eine einzelne Süsskartoffel aus der Erde nahm, registrierten die Messgeräte sofort Veränderungen in der Zusammensetzung der Luft. «Dieser unmittelbare Zusammenhang von Mikro- und Makrokosmos, von Ursache und Wirkung führt zu der Frage, wie wir ins planetarische Fühlen, Denken und Handeln kommen können. Und wie die ‹metabolische Verbundenheit› zwischen unterschiedlichen Lebewesen aus einer Wahrnehmungsperspektive heraus gestalterisch und wissenschaftlich erforscht und werden kann.»
Spannungsfeld zwischen den Wissenskulturen
Auf der gemeinsamen Suche nach Antworten wirken Expert:innen unterschiedlicher Disziplinen und Institutionen mit: Meeresbiologie (Jordan Lab, Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie, Universität Konstanz), Anthropologie (BLUE: More-than-Human Ethnographies of Oceans in Crisis, Universität Aarhus), Kulturwissenschaften (Kunstuniversität Linz) und Kuratieren (TBA 21-Academy, Ocean Space, Venedig). Das akademisch-institutionelle Wissen trifft auf andere Formen des Wissens und die Communities, in denen es entsteht und mit denen das Projektteam eng zusammenarbeitet. Kirschner ordnet ein: «Wir vermitteln nicht zwischen Öffentlichkeit, Design und Wissenschaft. Uns verbinden Interessen und Fragestellungen. Wir wollen klare Setzungen vornehmen. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld zwischen den Wissenskulturen und wir streben danach, die unterschiedlichen, menschlichen und mehr-als-menschlichen Perspektiven zu respektieren.»
Für ein Mit- und Nebeneinander
Eine Projektchoreografie gibt den Rahmen vor: im ersten Jahr stimmte sich das Team gemeinsam auf das Meer und seine Bewohner:innen ein, über eine kollaborativ entwickelte, forschende Praxis der «kollektiven Ethnographie» mit gemeinsamem Tauchen, visuellem und akustischem Dokumentieren, Skizzieren, Schreiben, Lesen, Diskutieren. Diese Methodik setzt sich über die gesamte Laufzeit fort und wird über die Webseite und Publikationen punktuell mit der Öffentlichkeit geteilt. Im laufenden zweiten Jahr stehen Interventionen und Prototyping im Vordergrund; ein Prozess, der vor allem über Workshops und kleine Ausstellungen läuft. Im dritten Jahr wird sich der Fokus auf die Einbindung von lokalen Communities verschieben, wie die Taucher:innen in Pula, deren Wissen und Fragen das Projektteam als ebenso relevant sieht wie ihre eigenen. Eine grosse Ausstellung in Venedig sowie ein Symposium in Zürich und eine Publikation schliessen das Projekt im vierten Jahr ab. Die Forschenden von «Interfacing the Ocean» erhoffen sich neue Impulse für Theorie und Praxis des Designs im aquatischen Raum, mit Blick auf ein ausgeglichenes Mit- und Nebeneinander von Menschen und mehr-als-menschlichen Spezies. Und denken bereits über ein Folgeprojekt nach – denn das Weltmeer bleibt weitgehend unerforscht.
